ArchäologieLandNiedersachsen, 
25 Jahre Denkmalpflege  -  400.000 Jahre Geschichte
S. 171 - 175
(Sonderausstellung Landesmuseum Oldenburg) 
2004
 
 

 

Ralf Nielbock, Stephan Veil: 


Die Einhornhöhle - 
Tierfriedhof des Eiszeitalters 
und Spuren aus der Zeit 
des Neandertalers
 
Umschlagseite

 

Neuere Forschungen zur Paläontologie der Höhle

Die Einhornhöhle ist ein weithin bekanntes Natur- und Kulturdenkmal und zudem die größte Besucherhöhle im West­harz. Sie befindet sich etwa 1,5 km nördlich von Scharzfeld im Landkreis Osterode am Harz. Die Höhle hat eine begehbare Gesamtganglänge von über 600 m. Neben vieler anderer Besonderheiten bietet diese durch kohlensäurehaltige Bodenwässer wahrscheinlich bereits im Tertiär entstandene Höhle im norddeutschen Raum die einmalige Gelegenheit, anhand einer Höhlenfauna vielseitige Auskunft über die hiesige tierische Lebewelt vom jüngeren Eiszeitalter bis zur Gegenwart zu erhalten. Jahrhunderte lang wurde die Höhle von Knochensammlern aufgesucht. Sie  erwies sich als ergiebige Fundstelle für das als Medizin begehrte Einhorn. Schon 1583 wurde über das Graben nach "Einhorn-Gebeinen" berichtet, mit denen ein Gewinn bringender Handel betrieben wurde. Selbst Leibniz, der die Höhle 1686 aufsuchte, glaubte daran, dass es sich bei den Knochenfunden um Unicornu verum = das wahre Einhorn  handelt. Wie wir heute wissen, waren es nicht Reste von Einhörner, die in der Höhle gefunden wurden, sondern fossile Knochen des Höhlenbären und einer Vielzahl weiterer eiszeitlicher Tiere.

Ende des 19. Jahrhunderts wurde mit intensiven wissenschaftlichen Untersuchungen der Einhornhöhle begonnen. Trotz der vielen dann folgenden Ausgrabungen, bei denen auch auf Tierknochen geachtet wurde, war bis vor wenigen Jahren  wenig über die Vielfalt und das tatsächliche Alter der fossilen Tierwelt der Einhornhöhle bekannt. Eine  1985 zunächst durch das Geolog. Institut der  TU Clausthal begonnene interdisziplinäre Grabungskampagne brachte völlig neue Erkenntnisse über die eiszeitlichen Bewohner dieser Höhle. Erstmals erfolgte eine Sedimententnahme nach stratigraphischen Abgrenzungen und alle Proben wurden feingeschlämmt.  Tausende von Tierfossilien konnten somit geborgen werden. Dabei handelt es sich zum einen um Großsäugerknochen von u.a. Höhlenbären, Wölfen und Höhlenlöwen. Erstmals gelang aber auch der Nachweis von Kleinsäugern und anderen kleinen Wirbeltieren in nahezu allen untersuchten Schichten. Neben Säugetierresten fanden sich auch Knochen von Fischen, Amphibien, Vögeln und Reptilien. Bei den Säugetieren sind über 50 Arten der Insektenfresser, Fledermäuse, Nager, Raubtiere, Hasenartigen und Paarhufer vertreten. Viele von ihnen kommen auch heute noch im Harz vor.

In den Fundinventaren aller Grabungsstellen  überwiegen aus den pleistozänen Schichten eindeutig Knochenfunde von Höhlenbären. Ihnen kam schon immer eine besondere Beachtung zu, vor allem der Entwicklung (Evolutionsphasen) und Ausbildung ihrer Zähne. Diese zeigen im Ge­gensatz zu denen reiner Raubtiere an, dass diese Bärenart sich im Laufe des Eiszeitalters immer wieder der Umwelt anpasste und mit fortlaufender Veränderung seines Gebisses vom Fleischfresser weg ein fast reiner Pflanzenfresser wurde. Der „Einhornhöhlenbär“ steht hinsichtlich seiner Entwicklung zwischen den primitiven Bären des älteren Eiszeitalters  (Ursus etruscus und Ursus deningeri) und dem voll entwickelten Höhlenbären in der Endphase der letzten Eiszeit (Ursus spelaeus), wie wir ihn vor allem aus Süddeutschland und dem alpinen Raum kennen. Vergleich­bares gibt es nur aus wenigen Höhlen.

Ergänzt man diese neue Fossilliste der Einhornhöhle um das Material früherer Grabungen, so erhöht sich die Vielfalt dieser Höhlenfauna auf bislang über 70 erkannte Wirbeltierarten, darunter über 60 Säugetierarten. Die Einhornhöhle ist mit dieser artenreichen eiszeitlichen Tierwelt eine einmalige Höhlenfundstelle im norddeutschen Raum! Es muss allerdings Folgendes bedacht werden: Alle bisherigen Funde stammen nur aus den oberen max. zwei Metern Sediment einer, wie Peilstangen- und Kernbohrung ergaben, stellenweise bis über 30 m mächtigen quartären Höhlenfüllung. Durch diese Bohrungen wurden die Dimensionen der Einhornhöhle und ihres potenziellen Fossil- und auch Artefaktreichtums erst erkennbar. Über  Jahrhunderttausende hinweg erfolgte ein natürlicher  Eintrag von Tierkadavern oder es starben zufällig Tiere in der Höhle. Für den Besucher der Einhornhöhle bedeutet dies, dass er beim Gang durch die Höhle auf einem gewaltigen Tierfriedhof mit Zigtausenden von Großsäugerresten und Millionen von Skeletten kleiner Wirbeltiere läuft. Deshalb galt diese „Einhorn-Quelle“ auch Jahrhunderte lang als „unerschöpflich“.

 

Neandertaler in der Einhornhöhle    -
Untersuchungen im Jacob-Friesen-Gang 1986 – 1988

In der Pionierzeit archäologischer Forschung des 19. Jahrhunderts wurden Höhlen als natürliche Wohnorte des Urmenschen angesehen. So führte der bekannte Arzt und Urgeschichtler Rudolf Virchow schon 1872 erste wissenschaftliche Grabungen in der Einhornhöhle durch, hier Spuren des eiszeitlichen Menschen zu finden. Seine und nachfolgende Untersuchungen blieben leider erfolglos. Der damalige Direktor des Provinzialmuseums in Hannover, Karl-Hermann Jacob-Friesen, kam diesem Ziel bei seinen Ausgrabungen 1925/26 allerdings recht nahe. Ausge­hend von der richtigen Überlegung, dass die Urmenschen sich eher im Tageslicht ehemaliger Eingänge als in den dunklen Tiefen der Höhle aufgehalten haben dürften, entdeckte er bei der Suche nach alten Eingängen den nach ihm benannten Gang. Er ließ ihn auf über 30 Meter Länge durchgraben, fand aber weder den erhofften Eingang noch Hinterlassenschaften des Urmen­schen.

Erst 1985 stieß Ralf Nielbock bei paläontologischen Ausgrabungen nach Tierknochen in diesem Gang zufällig auf wenige Steine, die eindeutig von Menschenhand bearbeitet sind. Sie lagen nur wenige Zentimeter unter dem Laufhorizont des gegrabenen Tunnels von Jacob-Friesen. Nach einer kurzen Untersuchung der Bezirks­denkmalpflege Braunschweig und des Instituts für Urgeschichte der Universität Tübingen 1986 konnte bei dreimonatigen Grabungen durch das Niedersächsische Landesmuseum Hannover 1987/1988 eine Reihe neuer Erkenntnisse gewonnen werden. Diese begrenzten Untersuchungen, die abseits der öffentlich zugänglichen Höhlenteile stattfanden, konnten einige grundsätzliche Fragen klären. Zum einen gelang der Nachweis, dass der Jacob-Friesen-Gang tatsächlich im Freien mündet und möglicherweise schon am Ende der letzten Eiszeit verstürzte und zugeschwemmt wurde. Heute ist an dieser Stelle von der ehemaligen Öffnung nichts mehr zu sehen. In dem engen Tunnel, den die Waldarbeiter 1925/26 durch die Füllung des Jacob-Friesen-Ganges getrieben hatten, konnten an vier Grabungsstellen weitere bearbeitete Steine, sog. Artefakte, als untrügliche Hinweise auf die Anwesenheit des Urmenschen gefunden werden. Um auch millimetergroße Steinsplitter und Nagetierzähne nicht zu übersehen, wurde das gesamte ausgegrabene Sediment Eimer für Eimer aus der Höhle in das nahegelegene Scharzfeld geschafft und durchgeschlämmt. Da die Steinartefakte in den gleichen schichten wie die Knochen ausge­storbener Tiere, vor allem des Höhlenbären, liegen und sich mit ähnlichen Steinwerkzeugen von anderen, genauer datierten Fundstellen vergleichen lassen, ist es sicher, dass sie älter als 35 000 Jahre sind.

Ihre Hersteller waren vermutlich Neandertaler, welche die Höhle wahrscheinlich in der letzten Warmzeit oder kurz danach vor etwa 100 000 Jahren aufgesucht haben.

Die Menschen müssen die Steinartefakte von außen in den Gang gebracht haben. Wahrscheinlich benutzten sie den wiederentdeckten Zugang und nicht – wie spätere Höhlenbesucher seit der Jungsteinzeit - den Deckeneinsturz der Blauen Grotte. Der Gang war damals, bevor Sediment ihn bis knapp unter die Decke verfüllte, mehrere Meter breit und geräumig, etwa wie der Virchow-Gang, und das Tageslicht wird sicherlich einige Meter hinein geleuchtet haben.

Die meisten Artefakte sind aus Quarzit, Tonschiefer und Kieselschiefer geschlagen, Gesteine, die in der Umgebung der Höhle aufgesammelt werden konnten (Abb. 2). Wenige Splitter sind aus ortsfremdem Feuerstein, dessen nächste Vorkommen etwa 30 km entfernt im Leinetal liegen. Der Neandertaler hat demnach Gesteinsroh­material möglicherweise als fertige Werkzeuge oder präparierte Abschlagkerne mitgebracht und hier weiterverarbeitet. Im Gang wurden typische Steinabfälle gefunden, die bei der Steinbearbeitung angefallen sind. Die Werkzeuge wie Schaber, Spitzen und größere, regelmäßige Abschläge wurden wohl gleichfalls vor Ort verwendet. Erwähnenswert sind ferner Hinweise auf  Feuerstellen, was angesichts der Höhlensituation nicht überrascht.

In den gleichen Erdschichten wie die Steinartfakte wurden viele Tierknochen geborgen, die meisten von Höhlenbären (Abb. 3). Es wäre verlockend, sie als Jagdbeutereste des Menschen zu deuten. Allerdings fehlen bisher Hinweise, dass Mensch und Bär zur gleichen Zeit in der Höhle waren. Es ist durchaus denkbar, dass beide die Höhle unabhängig voneinander und aus unterschiedlichen Gründen aufgesucht haben. Bären haben ja Höhlen regelmäßig als Winterschlafplätze benutzt.

Welche Gründe im Einzelnen den Menschen zum Besuch der Höhle bewogen haben, lässt sich noch nicht rekonstruieren. Vielleicht hat er sich vorwiegend im Schutz des ehemaligen Eingangs des Jacob-Friesenganges aufgehalten und nur ab und zu das Höhleninnere aufgesucht. Entgegen der alten Vorstellung vom „Höhlenmenschen“ gibt es leider kaum Vergleichsfundstellen, wo Spuren des Neandertalers so tief im Höhleninnern nachgewiesen wurden. Da die Steinartefakte in geologisch unterschiedlichen Schichten übereinander liegen, könnte sich der Besuch des frühen Menschen wiederholt und über einen längeren Zeitraum erstreckt haben.

So konnten die neuen Untersuchungen den Nachweis erbringen, dass der Neandertaler die unterirdischen Harzhöhlen nicht nur kannte, sondern auch zeitweilig aufsuchte.

 

Abb.1: Linker Unterkiefer des eiszeitlichen Wolfes Canis lupus aus dem  Jacob-Friesen-Gang
(Maßstab in cm) .

 

Abb. 2: Schädel von Wühlmäusen (Arvicolidae) aus holozänen Schichten im  Jacob-Friesen-Gang
(Bildbreite =  5cm).

 

Abb. 3: Kern = Steinartefakte  aus dem Jacob-Friesen-Gang 
und Schema der Abschlagherstellung vom präparierten Kern.
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