UP | Mitt.Verb. dt. Höhlen- & Karstforscher, H.52(2): München 2004. Archäotop
Einhornhöhle
von Ralf
Nielbock Zusammenfassung
In
den Sedimenten der Einhornhöhle bei Scharzfeld, Südharz, befinden sich
Hinterlassen aller Kulturstufen von heute bis in die Zeitstufe des
Neandertalers; diese Höhle ist somit eines der bedeutendsten Kulturdenkmäler
Mitteleuropas. Eine Übersicht der Erforschungsgeschichte mit Darstellung
der offenen Fragen wird gegeben. Summary
In
the sediments of the Unicorn Cave near Scharzfeld, Southern Harz Mts.,
cultural relicts of man are present from now back to Neandertal man. The
cave is one of the most important cultural heritage sites in Middle
Europe. An overwiev of the research history with open questions is given. Der
diluviale Mensch Bis
zum Beginn des 19. Jh. interessierte sich niemand für die mögliche
Existenz einer menschlichen Kreatur vor der Zeit unserer heutigen
Menschen. Es war selbstverständlich und letztendlich ja auch unumstößlich,
dass der Mensch zu einem bestimmten, gar nicht all zu lange zurückliegendem
Zeitpunkt und in seiner Vollkommenheit fix und fertig ohne Vorfahren und
Vergangenheit entstanden war. Die
Erforschung eines "vorzeitlichen Menschen" begann mit den ersten
aus damaliger Sicht bereits erkennbaren eindeutigen Funden, die nicht mit
der eigenen Spezies in Einklang zu bringen waren. 1830 wurden in Belgien
von Charles Schmerling gefundene Menschenknochen erstmals als fossil
eingestuft. Die entscheidende Wende brachte die Entdeckung von Knochen in
einer durch Steinbrucharbeiten angeschnittenen Höhle im Neandertal bei Düsseldorf.
Der Wuppertaler Naturforscher Johann Fuhlrott erkannte in ihnen nicht nur
menschliche Knochen. Gemeinsam mit dem Bonner Anatom Hermann Schaffhausen
stufte er die Funde als Reste eines robusten vorzeitlichen diluvialen
Menschen ein. In der nachfolgenden Diskussion zeigte sich der Berliner
Arzt und Anatom Rudolf Virchow als größter Widersacher dieser These; er
hielt die Funde für die Reste eines krankhaft veränderten rezenten
Menschen. Trotz
dieser Ablehnung war der Fund des "Neandertalers" der Beginn der
intensiven Suche nach dem diluvialen Menschen, der sich ja dann auch
Virchow mit seinen Grabungen in der Einhornhöhle bei Scharzfeld am Südharzrand
anschloss, weil in der Pionierzeit der Archäologie Höhlen als natürliche
Wohnorte des Urmenschen angesehen wurden.
Die
ersten wissenschaftlichen Grabungen von Virchow ab 1872 in der Einhornhöhle
hatten das erklärte Ziel, Spuren und Hinterlassenschaften des
eiszeitlichen Menschen zu finden. Er ging der Fragestellung nach, wie weit
die Anwesenheit des Menschen in der Höhle zurück reicht und ob dieser
Mensch sich zeitgleich mit dem Höhlenbären, von dem ja die Mehrzahl der
Knochenfunde stammt, in der Höhle aufhielt. Er konnte seine Vorgaben aber
nicht untermauern, hatte er doch planlos ausschließlich im Grabungsschutt
der vielen Vorgänger gegraben. "Seit Virchow galt immer als höchstes
Ziel aller Höhlenarbeiten die Feststellung von Spuren des
Eiszeitmenschen", so Karl-Hermann Jacob-Friesen in seinem Höhlenführerheft
(Jacob-Friesen 1926:23). Diese und auch die nachfolgenden Grabungen und
Untersuchungen blieben leider erfolglos. Gefunden wurden in den verschiedensten
Teilen der Höhle viele Tierknochen, aber auch erste Spuren einer frühen
menschlichen Besiedlung. Dies waren allerdings vor allem in der Blauen
Grotte Artefakte, Gerätschaften und
menschliche Knochen des Neolithikums sowie der Bronze- und Eisenzeit. Jacob-Friesen,
damals Direktor des Provinzialmuseums Hannover (Landesmuseum), hatte
bereits die richtige Vermutung und grub sich 1925/27 in dem später nach
ihm benannten Jacob-Friesen-Gang von der Höhle ausgehend durch
eiszeitliche Sedimente eines bis unter die Decke verfüllten Ganges in
Richtung vermuteter ehemaliger Tageslichtöffnung. Leider fand er weder
den verschütteten Eingang noch Beweise einer steinzeitlichen Besiedlung.
Er schuf damit allerdings, ohne es zu ahnen, die Voraussetzungen für die
späteren Funde. Mit dieser
Grabung endete vorerst auch die Suche nach dem diluvialen Menschen der Einhornhöhle.
Die
Neandertaler-Funde Jahrhundertelang
war die Höhle ein ergiebiger Fundplatz des begehrten Einhorns. Obwohl die
Quelle der Knochenfunde bislang nicht versiegte, galt bis 1985 die
Erforschung der Höhle als abgeschlossen. Im Jacob-Friesen-Gang wurden
dann unerwartet mehrere mittelpaläolithische Artefakte gefunden.
Bereits der erste Tag einer kleinen Sondage im Gang brachte den von vielen
früheren Forschern lang ersehnten Fund ans Tageslicht - einen "Levallois"-Kern
und einen großen Abschlag aus der Zeit des Neandertalers!
Welche Ironie der Wissenschaft: Jacob-Friesen stand 60 Jahre zuvor,
ohne es zu wissen oder gar zu ahnen, mit eigenen Füßen auf den Belegen
der Altsteinzeit, die er unbedingt finden wollte. Bereits einige
Zentimeter über seiner Lauffläche wurden dann im Laufe der Grabung
mittelpaläolithische Artefakte gefunden. Ab
1989 erfolgte eine gemeinsame Grabungskampagne der TU Clausthal mit dem
Landesmuseum Hannover und anderen Institutionen sowohl in der Höhle aus
auch außerhalb. Bereits in dieser ersten Kampagne
konnten wesentliche Erkenntnisse über die altsteinzeitliche Besiedlung
und die Sedimentation gewonnen werden. Die gesamte Sedimentfüllung des
„Ganges“ ist von einem heute verschütteten, ehemals sicher über 20 m
hohen Höhlenportal mit Abris und Vorplatz in die Höhle gelangt.
Erst im Laufe von Jahrzehntausenden wuchs das Sedimentpaket an und der
Gang, der in Wirklichkeit eine breite und hohe Halle ist, wurde
unpassierbar. In allen Grabungsstellen wurden Steinartefakte gefunden, in
oberen Schichten auch jüngeres Material. Der Nachweis der Anwesenheit des
„Urmenschen“ in der Einhornhöhle war gelungen! Die
bisherigen Absolutdatierungen, die Faunenzusammensetzung, die Tierknochenfunde und ihre technologischen Kennzeichen deuten auf eine
zeitlichen Stellung der Artefakte von der mittleren Weichsel-Kaltzeit bis
in die Eem-Warmzeit (Maximum vor ca. 120.000 Jahren), d.h. in den
Sedimenten spiegelt sich eine Abfolge der Besiedlung der Höhle über
viele Jahrzehntausende wieder. Die Verfertiger der Steinwerkzeuge waren
somit Neandertaler; menschliche Knochenfunde fehlen zur eindeutigen Bestätigung
bislang leider noch. Die Neandertaler
müssen über lange Zeiträume die Höhle immer wieder aufgesucht
haben bzw. war das damalige Höhlenportal ein über viele Generationen
genutzter Aufenthaltsort. Die Fundstreuung und die Vielzahl kleiner
und kleinster spitzkantiger Absplisse zeigt zudem an, dass hier
Steinwerkzeug immer und immer wieder vor Ort hergestellt wurde. Die
Einhornhöhle war somit eine „Steinwerkstatt“ des Neandertalers. Zur
Herstellung benutzte er überwiegend Harzgesteine aus der näheren
Umgebung (Quarzite, Grauwacken, Kieselschiefer und Hornfelse); einige
Rohlinge kamen allerdings auch aus größerer Entfernung - Bruchstücke
des im Südharz nicht vorkommenden baltischen Feuersteins. Das für die
Bearbeitung relativ schlechte Rohmaterial mit seiner Klüftigkeit und
groben Körnung verhinderte eine ideale Ausbildung von Schlag- und
Bruchformen, wie sie vom Feuerstein und somit von anderen Fundstellen
bekannt ist. Das Einhornhöhlenmaterial sieht etwas unscheinbar aus; dafür
hat diese Fundstelle allerdings die Besonderheit der langen zeitlichen
Andauer der Begehung durch den eiszeitlichen Menschen. Erwähnenswert sind
ferner Hinweise auf Feuergebrauch. In
den gleichen Schichten wie die Steinartefakte wurden auch zahlreiche
Knochen von Höhlenbären geborgen. So verlockend es wäre, sie als
Jagdbeutereste des Menschen zu deuten, so entschieden muss betont werden,
dass zur Zeit keine Hinweise auf einen solchen Zusammenhang der
Anwesenheit von Mensch und Bär vorliegen. Die
neue Sachlage zeigt an, dass der Jacob-Friesen-Gang funktional gar kein
Gang aus der Höhle heraus ist, sondern der rückwärtige Bereich eines
geräumigen und trockenen Abris "mit einer dunklen Höhle
dahinter" - der ideale Lagerplatz über Jahrtausende.
Das
Holozän Es
gibt auch Spuren des nacheiszeitlichen Menschen - die Nutzung der Einhornhöhle
durch den Menschen in der Nacheiszeit ist im Bereich der Blauen Grotte
durch archäologische Funde in das 4. Jahrtausend v.u.Z. datiert. Es
handelt sich dabei um mehrere kleine, Dechsel genannt Steinbeile aus der
Zeit der ersten Bauern. Das Bruchstück einer Streitaxt gehört an das
Ende dieser Zeit um 2000 Jahre v.u.Z. Aber auch die anderen,
eingangsfernen Höhlenteile bis zum Weißen Saal wurden bereits in prähistorischer
Zeit von Menschen aufgesucht, wie eine Spiralplattenfibel aus der
mittleren Bronzezeit (ca. 1400 - 1200 v.u.Z.) und 2500 Jahre alte früh-latenezeitliche
Fibeln belegen. Überwiegend aus den letzten 5 Jh. v.u.Z. stammen überdies
große Mengen Keramikscherben, welche als Überreste von Opferhandlungen
zu deuten sind. Welche Bedeutung (Opfer, Grab?) den menschlichen Knochen
in den nacheiszeitlichen Höhlensedimenten zukommt, ist bislang nicht zu
entscheiden. Der
Archäotop Aufgrund
der bisherigen Erkenntnisse über die Zeittiefe und Kontinuität des
Aufenthalt von Menschen in der Höhle steht aber fest: In ihren Sedimenten
befinden sich Hinterlassen aller Kulturstufen von heute bis in die
Zeitstufe des Neandertalers. In den oberen Sedimentschichten haben wir
bereits eine kontinuierliche Schichtenabfolge von der "Coladose bis
zum Faustkeil". Die Einhornhöhle ist somit eines der bedeutendsten
Kulturdenkmäler Mitteleuropas. Sie ist somit nicht nur ein Geotop und
Biotop, sondern auch ein unterirdischer Archäotop. Die Tiefe der
Sedimentschichten und das hohe Alter der Höhle lassen allerdings auch
eine Frage offen: Wer hat bereits vor dem Neandertaler die Einhornhöhle
aufgesucht? Denn zum bisherigen Forschungsstand muss bedacht werden, dass
erst ein verschwindend geringer Anteil der Sedimente ergraben wurde. Uns
ist heute noch nicht einmal 1/1000 des Inhaltes dieses Höhlenteiles
bekannt! In
einem internen Grabungsbericht zu seinem letztem Versuch, hier den
Menschen der Altsteinzeit zu finden, merkte Jacob-Friesen 1926 an:
"Die Verhältnisse in der Einhornhöhle sind so schwierig, dass ohne
große Mittel dieses Problem kaum zu lösen sein wird, so dass wir in
absehbarer Zeit nicht wieder graben werden". Nach den vielen neuen
Funden und Erkenntnissen der letzten Jahre, die ja seinen Wünschen und
Vorstellungen entsprachen, scheint diese Zeit jetzt aber gekommen und wir
sind es Jacob-Friesen schuldig, das Erbe anzutreten, um den
"diluvialen Menschen" der Einhornhöhle zu finden. Literatur
Favreau,
P. (1904): Eine Station des Höhlenbären-Jägers in der Einhornhöhle bei
Scharzfeld (Harz).- Der Harz
1904:191-200, Magdeburg Favreau,
P. (1907): Die Ausgrabungen in der Einhornhöhle
bei Scharzfeld.- Z f. Ethnologie 39:525-540, Berlin Jacob-Friesen, K.-H.
(1926): Die Einhornhöhle bei Scharzfeld, Kreis Osterode a. Harz.- Führer
zu urgeschichtlichen Fundstätten Niedersachsens 2, Hannover Knolle, F.
(Red., 2004): Die Einhornhöhle.- Unser Harz 52(2):21-40,
Clausthal-Zellerfeld Löns,
H. (1907): Was geht in Scharzfeld vor? - Heimat 12/1907:1-2, Hannover Nielbock,
R. (1989): Die Tierknochenfunde der Ausgrabungen 1987/88 in der Einhornhöhle
bei Scharzfeld.- Archäol. Korr.-Bl. 19:217-230, Mainz Nielbock.
R. (1990): Die Einhornhöhle – ein quartärwissenschaftliches Kleinod im
Südharz.- Mitt. Verb. dt. Höhlen- u. Karstforsch. 36(2):24-27, München Veil, S.
(1989): Die archäologisch-geowissenschaftlichen Ausgrabungen 1987/88 in
der Einhornhöhle bei Scharzfeld, Ldkr. Osterode am Harz.- Archäol.
Korr.-Bl. 19:203-216, Mainz Virchow,
H. (1907): Bericht Einhornhöhle.- Z. f. Ethnologie 39:980-989, Berlin Virchow,
R. (1872): Über bewohnte Höhlen der Vorzeit, namentlich die Einhornhöhle
im Harz.- Z. f. Ethnologie 4:251-258, Berlin Vladi,
F. (1984): Führer durch die Einhornhöhle bei Scharzfeld.- Herzberg Anschrift des Autors: Dr. Ralf Nielbock, Gesellschaft Unicornu fossile e.V., Im Strange 12, 37520 Osterode am Harz
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Abb. 1:
Rudolf Virchow, auf Spurensuche des „diluvialen Menschen“ in der
Einhornhöhle |
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Abb. 2:
Grabung Jacob-Friesen-Gang 1985 - die ersten Artefaktfunde aus dem
Mittelpaläolithikum: Retuschierter Abschlag (links) und oval präparierter
Levallois-Abschlagkern (rechts)
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Abb. 3:
Spiralplattenfibel der mittleren Bronzezeit (ca. 1400 - 1200 v.u.Z.), Fund
in der Einhornhöhle um 1900
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